Systemfrage Gas: Der Elefant im Raum, den Reiches 10-Punkte-Plan zum Energiewende-Monitoring nicht sehen will?
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Systemfrage Gas: Der Elefant im Raum, den Reiches 10-Punkte-Plan zum Energiewende-Monitoring nicht sehen will?
Der Monitoring-Bericht zum Stand der Energiewende, den das Bundeswirtschaftsministerium (BMWE) veröffentlicht hat, soll die Grundlage für die zukünftige Ausrichtung der deutschen Energiepolitik bilden und zentrale Fragen zu Strombedarf, Versorgungssicherheit, Netz- und Erneuerbarenausbau, Wasserstoffhochlauf und Digitalisierung beantworten.
Schon im Vorlauf wurden Vorstöße der Bundesregierung zum geplanten Ausbau von 20 GW an gasbasierten Residuallastkraftwerke kritisch diskutiert. Hierbei ging es vor allem um die Größenordnung der zusätzlichen Gaskapazitäten, die der Absicherung des von erneuerbaren Energien dominierten Stromnetzes dienen sollten. Die hier relevante Grundsatzfrage, welche Rolle (fossiles) Gas und Kraftwerke in einem künftigen, klimaneutralen, kosteneffizienten und zugleich resilienten Stromsystem spielen sollen, erfährt mit Punkt 4 des nun vorgelegten „10-Punkte-Plans“ eine weitere Dimension, indem von „Grundlastkraftwerken“ die Rede ist, die perspektivisch mit Wasserstoff betrieben werden sollen.
Ein vorwiegend kraftwerkzentrierter Ansatz zur Absicherung von erneuerbaren Energien ist sehr teuer. Der Kapazitätsfaktor – also die Auslastung, unter der ein Kraftwerk im Jahr läuft, der bei Residualkraftwerken per Definition gering ist – ist neben dem Gaspreis ein wichtiger betriebswirtschaftlicher Umstand. Diesen nun möglicherweise anzuheben, um die Stromgestehungskosten der Gaskraftwerke zu optimieren, ist ein Hinweis auf das Verharren im alten Kraftwerkparadigma und Verdrängen von sicherheits-, wirtschafts- und klimapolitischen Realitäten.
Entscheidend ist letztlich, welche politischen Schlüsse aus den Ergebnissen des Monitoring-Berichts gezogen werden. Dort wird auf unterschiedliche Szenarientypen Bezug genommen: einerseits normative Szenarien, die die Erreichung der Klimaziele als feste Bedingung ansetzen, und andererseits explorative Trend-Szenarien, die mögliche Entwicklungen unter bestimmten Randbedingungen modellieren, ohne notwendigerweise Klimaneutralität sicherzustellen. Beide Ansätze haben ihren Wert – doch entscheidend ist, dass das Ministerium Maßnahmen ergreift, die beide Betrachtungswinkel klug harmonisiert. Es braucht eine integrierte Herangehensweise, die das Backcasting vom Ziel der Klimaneutralität konsequent mit dem Forecasting ausgehend vom Status quo in Einklang bringt. Nur so lassen sich robuste Transformationspfade entwickeln, anstatt den Status quo als Argument zu nutzen, um zielorientierten Szenarien und dazugehörige Maßnahmen in den Hintergrund zu stellen.
Zentrale Diskussionspunkte:
Der kraftwerkbasierte Ansatz zur Absicherung des auf erneuerbaren Energien basierten Stromnetzes erfordert erhebliche installierte (und neue) Kapazitäten, bei enormen Kosten.
Große Unsicherheiten bei zukünftigen Preisen von Gas und Wasserstoff sowie geopolitische Entwicklungen bergen große wirtschaftliche Risiken.
Für ein kosteneffizientes, resilientes und emissionsarmes Stromsystem brauchen wir eine zukunftsfähige System- und Flexibilisierungsstrategie, samt Strommarktreform, in der die Kraftwerkskapazität zur Versorgungssicherheit auf ein absolutes Minimum reduziert wird.
Unklarheiten beim tatsächlich notwendigen Kraftwerkszubau
In der Grundlogik eines traditionellen, kraftwerkzentrierten Energiesystems ist es üblich, strategische Resilienzen bzw. Überkapazitäten vorzuhalten. Diese ermöglichen es, sowohl Lastspitzen abzudecken als auch Erzeugungsausfälle zu kompensieren.Hier sollen die Gaskraftwerke ansetzen: Im Jahr 2024 lag ihre installierte Leistung in Deutschland bei 32,9 GW. Um Versorgungssicherheit zu gewährleisten, braucht es einen Zubau von Kapazitäten, da viele existierende Gaskraftwerke in Deutschland nicht für das flexible Hoch- und Herunterfahren ausgelegt sind. Die geplanten neuen Anlagen sollten dort gebaut werden, wo sie systemdienlich eingesetzt eine hohe Effizienz bei geringer Teillast erreichen können.Wie viel zusätzliche Kraftwerkskapazität unser zukünftiges Stromsystem tatsächlich braucht, ist keine simple und geradlinige Berechnung und hängt in hohem Maße von Annahmen und der Umsetzung bezüglich anderweitiger Flexibilitätsmaßnahmen ab. Die aktuelle Bundesregierung veranschlagt hierfür sofort bis zu 20 GW, während die vorherige Regierung zunächst rund die Hälfte dieser Kapazität für ausreichend hielt.
Wirtschaftlichkeitsproblematik bei niedrigen Volllaststunden
Niedrige Laststunden von fossilen Kraftwerken sind Ziel der kostengünstigen Energiewende und durch die Merit-Order auch auf dem Strommarkt etabliert. Allerdings leidet dadurch die Wirtschaftlichkeit. Denn Investitionskosten in den Aufbau der Kraftwerkkapazitäten sind dieselben, unabhängig davon, wie viel man von diesen Kapazitäten nutzt. Dies spiegelt sich in den Stromgestehungskosten wider, welche die Kosten für den Aufbau und den jährlichen Betrieb einer Anlage ins Verhältnis zur Stromerzeugungsmenge über die gesamte Lebensdauer der Anlage setzt.
Investitionskosten für Gaskraftwerke sind noch höher, wenn die Anlagen mit Carbon Capture und Storage (CCS) ausgestattet werden, um die neuen Kapazitäten näher in Einklang mit dem Ziel der Treibhausgasneutralität in 2045 zu bringen. Der Vergleich der Stromgestehungskosten von Kraftwerken unter Einsatz von Erdgas (NG) mit CCS und Wasserstoff (H2) zeigt, dass die Gestehungskosten mit einem Ansteigen des Kapazitätsfaktors sinken, da die annualisierten Investitionskosten auf eine größere Menge produzierter Energie aufgeteilt werden können. Der Abfall der Gestehungskosten ist besonders prägnant für CCS-Kraftwerke aufgrund ihrer hohen Kapitalintensität. Gleichzeitig sind die realistischen Kosten für beide Kraftwerkstypen bei geringer Auslastung (<10 %) enorm, aber auch bei derzeitiger Gasnutzung (ca. 20%) noch signifikant. Grund dafür ist, dass hohe Kosten für die Bereitstellung und den Betrieb – also Investitionskosten, Personalkosten, Instandhaltungskosten, sowie Kosten für die Transport- und Speicherinfrastruktur von CO2 oder Wasserstoff – auf wenige erzeugte kWh Strom umgelegt werden. Die H2-Verstromung wird also ebenfalls teuer sein und könnte die Kosten der Dekarbonisierung des Stromsystems erheblich steigern, sofern nicht auf ein absolut sinnvolles Maß beschränkt.
Im direkten Vergleich mit erneuerbaren Energien ist eine höhere Auslastung eines Gas- oder ein Wasserstoffkraftwerks nicht wettbewerbsfähig. Sollte dies aber politisch erzwungen werden, um die Kapitalinvestitionskosten des Kraftwerks besser zu annualisieren, würde es den Strompreis insgesamt künstlich in die Höhe treiben. Ein weiteres Risiko: je höher der Kapazitätsfaktor, umso größer ist der Anteil vom Gas- bzw. Wasserstoffpreis für die Gesamtkosten.
Geopolitische Risiken und Preisunsicherheiten
Neben den hohen Investitions- und Betriebskosten existieren große Unsicherheiten bei den tatsächlichen Preisen für Gas und Wasserstoff in der Zukunft, vor allem auch hinsichtlich der derzeitigen geopolitischen Entwicklung und dem stockenden Wasserstoffhochlauf.
Die sicherheitspolitischen Risiken und wirtschaftlichen Konsequenzen durch die Abhängigkeit von Gasimporten hat Deutschland erst vor wenigen Jahren schmerzlich zu spüren bekommen. Das Ziel einer nachhaltigen Politik sollte also zweifellos sein, diese Abhängigkeiten zu reduzieren. Vor allem in Anbetracht dessen, dass pipelinegebundenes Gas mit niedriger Emissionsintensität (Vorkettenemissionen) von sicherheitspolitisch unbedenklichen Partnern bis Mitte des Jahrhunderts deutlich zurückgehen wird. Im Wettbewerb eines globalen Spotmarktes für LNG ist nicht damit zu rechnen, dass Gaspreise signifikant fallen werden, im Gegenteil, und auch die Emissionsintensität von LNG ist ein Vielfaches von z. B. norwegischem Pipeline-Gas.
Die genauen Kosten für grünen oder low-carbon Wasserstoff ab 2030 sind heute noch sehr unsicher und werden selbst unter optimistischen Annahmen kaum mit Erdgas konkurrieren können. Die Wasserstoffrückverstromung hängt jedoch aufgrund niedriger Wirkungsgrade in hohem Maße von Wasserstoffpreisen ab, sodass die Stromgestehungskosten für Wasserstoffkraftwerke ein Vielfaches der Kosten konventioneller Gaskraftwerke erreichen würden.
Notwendiges Umdenken erforderlich
Aufgrund der enormen Kosten sowie der technischen, politischen und wirtschaftlichen Unsicherheiten und Risiken, die mit dem kraftwerkzentrierten Ansatz der Bundesregierung einher gehen, sollte dieser unbedingt überdacht werden. Ja, thermische Kraftwerke werden auch künftig einen Beitrag zur Versorgungssicherheit leisten müssen. Ihr Einsatz muss jedoch ökonomisch effizient, europarechtlich kompatibel und vor allem nachhaltig systemstrategisch eingebettet sein – ihre Rolle darf nicht mit einer Allzwecklösung für Systemflexibilität verwechselt werden.Notwendig ist eine zukunftsfähige System- und Flexibilisierungsstrategie, welche die Potenziale der umfassenden Elektrifizierung von Industrie, Wärmeversorgung und Mobilität konsequent nutzt. Durch intelligente Steuerung von Lasten, gesteigerte Energieeffizienz, Sektorkopplung, dezentrale Flexibilitäten und digitale Optimierung kann das Stromsystem effizienter, kostengünstiger und resilienter gestaltet werden. So lassen sich Energiekostensenkung, geopolitische Resilienz und eine erhöhte Netzstabilität im Einklang mit einem zunehmend elektrifizierten, europäischen Energiesystem realisieren.
Mittel- und langfristig müssen Kernelemente des Strommarktes reformiert und angepasst werden, um eine effizientere Koordination zwischen Verbraucher:innen, Netzbetreibern und Erzeugern zu ermöglichen. Dies umfasst z. B. dynamische Netzentgelte, welche u. a. Anreize für die Flexibilisierung der Stromnachfrage der Industrie ermöglicht und Signale für den Ausbau von z. B. Batteriegroßspeichern setzt.
Die in einem solchen System noch minimiert notwendigen Kraftwerkkapazitäten sollten zukunftsorientiert geplant werden. Hier kann ein Fokus auf Wasserstoff einen Ankerpunkt für den Hochlauf der Wasserstoffwirtschaft bieten. Gleichzeitig bietet die Einbeziehung der CCS-Komponente in der Debatte mindestens einen Mehrwert. Sie approximiert einen wichtigen Teil der tatsächlichen Kosten von Gaskraftwerken – einschließlich Umwelt- und Klimaschäden – und erlaubt eine realistischere marktwirtschaftliche Einordnung von Alternativen.
Eine auführlichere Darstellung der Komplexitäten und unserer Berechnungen samt Quellenangabe findet sich im Hintergrundpapier.
DAS HINTERGRUNDPAPIER WIRD IN KÜRZE HIER VERFÜGBAR SEIN