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Dekarbonisierung der deutschen Stahlproduktion: Warum Wasserstoff nicht die alleinige Lösung sein kann

: Juli 3, 2023

: Luisa Keßler

Stahl ist ein unverzichtbares Material für die Energiewende, z. B. für Windkraftanlagen, Solarparks, Infrastruktur für Stromübertragung und -verteilung sowie Energiespeichersysteme. Gleichzeitig ist die Stahlindustrie auch einer der größten Emittenten Deutschlands, denn sie verursacht um die 55 Millionen Tonnen CO2 oder relativ betrachtet etwa 7,2 % der deutschen Treibhausgasemissionen. Ein „Weiter so“ wird den Weg in eine klimaneutrale Zukunft nicht ebnen können. Die Produktion muss umfassend umstrukturiert werden und es bedarf eines tiefgreifenden Umdenkens entlang der gesamten Wertschöpfungskette.

Deutschland ist der größte Stahlproduzent Europas mit einer Produktionskapazität von rund 40 Millionen Tonnen im Jahr 2021 [1] und über 154 in der Industrie tätigen Betriebe [2]. Der Sektor bildet ein bedeutendes Standbein der deutschen Wirtschaft und bietet ca. 81.000 Menschen unmittelbar und vielen weiteren in nachgelagerten Sektoren der Stahlwertschöpfungskette, wie dem Baugewerbe oder der Automobilindustrie, einen Arbeitsplatz [1]. Neben seiner sozio-ökonomischen Bedeutsamkeit ist Stahl auch ein unverzichtbares Material für die Energiewende, z. B. für Windkraftanlagen, Solarparks, Infrastruktur für Stromübertragung und -verteilung sowie Energiespeichersysteme.

Gleichzeitig ist die Stahlindustrie auch einer der größten Emittenten Deutschlands, denn sie verursacht um die 55 Millionen Tonnen CO2 oder relativ betrachtet etwa 7,2 % der deutschen Treibhausgasemissionen (im Jahr 2021)[1]. Damit wir in Deutschland unsere Klimaziele erreichen, muss auch die Stahlproduktion bis 2045 CO2-neutral werden. Die konventionelle kohlebasierte Hochofenroute für die Primärstahlerzeugung ist bereits ein energetisch optimierter Prozess, der nur wenig Potenzial für weitere Effizienzsteigerungen und Emissionsreduktionen bietet. Ein „Weiter so“ wird den Weg in eine klimaneutrale Zukunft nicht ebnen können. Die Produktion muss umfassend umstrukturiert werden und es bedarf eines tiefgreifenden Umdenkens entlang der gesamten Wertschöpfungskette.

Die Dekarbonisierung der Stahlindustrie erfordert einen differenzierten Ansatz. Keine Lösung kann diese immense Herausforderung allein bewältigen.

Viele deutsche Stahlhersteller setzen auf H2-Direktreduktionsanlagen

Mit Wasserstoff betriebene Direktreduktionsanlagen (DRI) [3] kristallisieren sich scheinbar als bevorzugter Dekarbonisierungsweg für die Primärstahlproduktion heraus. Große Stahlhersteller wie thyssenkrupp oder Salzgitter haben angekündigt, ihre Produktion auf Direktreduktionsanlagen umzustellen. Das wachsende politische Interesse an Wasserstoff, die Einführung verbindlicher Ziele für dessen Einsatz in der Industrie und die Bereitstellung öffentlicher Mittel zur Unterstützung von Produktion und entsprechender Infrastruktur dürften das Interesse an grüner Stahlproduktion durch grünen Wasserstoff weiter steigern. Doch ist dieser Weg überhaupt realistisch?

Das beträchtliche Potenzial liegt auf der Hand: Eine Umstellung auf DRI und emissionsarmen Wasserstoff zur Reduktion von Eisenerz für die Primärstahlerzeugung kann die Treibhausgasemissionen der konventionellen Hochofenroute, bei der etwa 1,85 Tonnen CO2/t Stahl emittiert werden [4], vermeiden. Bei der Direktreduktion wird Eisenschwamm in einem Hochofen produziert, der anschließend in einem Elektrolichtbogenofen zu Stahl weiterverarbeitet wird. Die Hochofenroute als vorherrschendes Verfahren stützt sich hauptsächlich auf Koks als Reduktionsmittel, das aus Kohle gewonnen wird. Durch die Umstellung von fossilen Brennstoffen auf Wasserstoff kann die Stahlindustrie erhebliche Fortschritte bei der Dekarbonisierung erzielen. Eine solche Umstellung ist jedoch nicht mit einem vermeintlich einfachen Wechsel des Brennstoffs getan, sondern erfordert Investitionen in gänzlich neue Produktionsanlagen.

Alle sechs integrierten Stahlwerke Deutschlands haben angekündigt, in den kommenden Jahren auf Direktreduktion mit Wasserstoff umzusteigen.

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Falls man die gesamte Rohstahlproduktion dieser Stahlwerke aus dem Jahr 2021 durch mit Wasserstoff betriebene Direktreduktionsanlagen ersetzen würde, könnten 44,2 Millionen Tonnen CO2 oder rund 85 % der Emissionen der deutschen Stahlproduktion im selben Jahr weitestgehend vermieden werden. Allein die Dekarbonisierung des größten Stahlwerks in Europa (Duisburg) würde mehr Emissionen einsparen, als die Stadt Berlin aktuell verursacht.

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Jedoch können die Werke diese vielversprechenden Emissionsminderungen nur erreichen, wenn die Direktreduktionsanlagen idealerweise mit grünem Wasserstoff betrieben werden – und das erfordert eine sehr große Menge an grünem Strom. Ein rapider und massiver Ausbau der Erneuerbaren ist dafür notwendig.

Wir haben nachgerechnet: Würden die oben genannten sechs Stahlwerke ihre gesamte derzeitige Produktionskapazität durch mit grünem Wasserstoff betriebene Direktreduktionsanlagen ersetzen, bräuchten diese eine enorme Menge der derzeit etwa 125 TWh/a Stroms aus Windenergieanlagen in Deutschland [5].

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In Anbetracht dieser enormen Herausforderung ist es wahrscheinlich, dass viele der geplanten DRI-Anlagen zunächst mit Erdgas betrieben werden, bis Wasserstoff in ausreichenden Mengen und zu wettbewerbsfähigen Preisen verfügbar ist. Eine möglichst vollumfängliche Dekarbonisierung der Stahlindustrie würde so zunächst abgebremst werden und CO2-Emissionen weiterhin in die Atmosphäre gelangen.

Die Energiewende wird uns ohne Stahl nicht gelingen und gleichzeitig wird sich der Energieverbrauch durch DRI-Anlagen extrem erhöhen. Wie auch immer man es betrachtet, der exorbitant hohe Bedarf an Strom aus erneuerbaren Energien ist der entscheidende Engpass auf dem Weg zu einer drastischen Reduzierung der Emissionen und damit zur Klimaneutralität in der Stahlindustrie. Das heißt: Der rasche Ausbau dieser erneuerbaren Energien ist ein zentraler Schlüssel zur Sicherung der Zukunft des europäischen Stahlsektors.

Aufgrund des erheblichen Ressourcenbedarfs in der Herstellung ist Wasserstoff kein Allheilmittel und sollte selbst in der Stahlindustrie nicht als solches behandelt werden.

Drei Hauptalternativen zur Dekarbonisierung durch Wasserstoff kommen hierbei in Frage:

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(1) Die Optimierung des Stahleinsatzes beinhaltet eine Verringerung der Gesamtnachfrage nach Stahl durch Effizienz- und Suffizienzmaßnahmen. So könnte beispielsweise eine schrittweise Abkehr von privaten PKW durch eine verstärkte Nutzung des öffentlichen Personenverkehrs und Shared Mobility-Lösungen zu einer sinkenden Anzahl von Privatfahrzeugen und damit zu einem Rückgang der Produktion von neuen PKW führen. Um einen PKW herzustellen, braucht es durchschnittlich 900kg Stahl [10]. Laut Studien können durch jedes Carsharing-Auto 5 bis 15 private PKW ersetzt werden [11]. Darüber hinaus dürfte eine teilweise Substitution von Stahl durch energieeffizientere und nachhaltigere Materialien, z. B. in der Baubranche, die Gesamtnachfrage nach Stahl ebenfalls minimieren.

(2) Stahl wird oft als Paradebeispiel für die Kreislaufwirtschaft herangezogen. Es ist eines der weltweit meist recycelten Materialien und kann vollständig und beliebig oft wiederaufbereitet werden. Sekundäre Stahlproduktion über die Elektrolichtbogenofenroute, also das Recycling von Stahl, das derzeit etwa ein Drittel der deutschen Stahlproduktion ausmacht [1], ist wesentlich weniger CO2-intensiv als die Primärstahlproduktion. Außerdem ist die Herstellung von Sekundärstahl unabhängig von der Energiequelle immer energieeffizienter. Eine erhöhte Recyclingquote ist also ein besonders wirksamer Hebel zur Verringerung der Emissionen aus der Stahlerzeugung, insbesondere wenn hierfür Strom aus erneuerbaren Quellen benutzt wird.

Eine höhere Recyclingquote könnte beispielsweise durch verstärkte Urban Mining-Bestrebungen oder durch die vermehrte Aufbereitung von Stahlschrott in deutschen Stahlwerken erreicht werden, anstatt diesen in Länder wie die Türkei zu exportieren. Ein solcher Ansatz könnte allerdings das Risiko bergen, dass die Emissionen aus der

Stahlproduktion in jenen Ländern, die derzeit deutschen und europäischen Stahlschrott importieren, zunehmen. Die ausbleibenden Lieferungen könnten diese Länder zwingen, ihre Primärstahlproduktion zur Deckung ihrer Nachfrage zu erhöhen.

Abgesehen davon ist die verfügbare Menge an Stahlschrott endlich, was durchaus im Einklang mit den Prinzipien einer Kreislaufwirtschaft ist, die einer langen Lebensdauer und Reparaturen Vorrang vor dem Recycling von Produkten einräumen. Stahlprodukte haben eine durchschnittliche Lebensdauer von 35 Jahren, wobei Stahl im Bauwesen eine Lebensdauer von mehr als 50 Jahren erreicht [12], während einfache Metallprodukte in der Regel nach 11 Jahren recycelt werden. Daher ist es trotz hoher Recyclingquoten unwahrscheinlich, dass die große Nachfrage nach Stahl allein durch recycelte Ressourcen gedeckt werden kann. Darüber hinaus bleiben im Recyclingprozess Verunreinigen bestehen, die sich über etliche Recyclingvorgänge hinweg ansammeln. Die Produktion von Primärstahl ist unter diesen Gesichtspunkten nach wie vor erforderlich, insbesondere für Sektoren, in denen hohe Stahlqualitäten unverzichtbar sind, wie z. B. in der Automobilbranche oder für Windkraftanlagen.

(3) Die Abscheidung und permanente tiefengeologische Speicherung von CO2 (CCS) stellt eine weitere Alternative zur Dekarbonisierung der Stahlproduktion dar, jedenfalls sofern Zugang zu einer CO2-Transport- und Speicherinfrastruktur besteht. Die unterschiedlichen CO2-Punktquellen der aktuell vorwiegend verwendeten Hochöfen und Blasstahlkonvertern (BOF) schränken die Effektivität und Wirtschaftlichkeit von CCS jedoch ein. Dieser Umstand wird durch eine geringe CO2-Konzentration in den Abgasströmen weiter verschärft. Eine sinnvolle Anwendung von CCS bei der Stahlerzeugung über die Hochofenroute würde eine Umrüstung des Werks auf eine Hisarna-Anlage oder eine Gichtgasrecyclinganlage erfordern.

CCS könnte auch an einem DRI-Stahlwerk eingesetzt werden, das mit fossilem Gas betrieben wird. In diesem Fall ist CCS aufgrund des einzelnen Abgasstroms mit einer höheren CO2-Konzentration praktikabler als bei einem Hochofen. Allerdings ist in Deutschland und Europa derzeit nur ein DRI-Stahlwerk in Betrieb, das mit fossilem Gas betrieben wird (Hamburg). Die Anwendung von CCS in einem der geplanten H2-DRI-Stahlwerke, die vorerst nicht vollständig mit grünem Wasserstoff betrieben werden, muss gegen die Kosten und Infrastrukturgegebenheiten für die Erzeugung und Nutzung von Wasserstoff aus fossilem Gas mit CCS, dem sogenannten blauen Wasserstoff, abgewogen werden. Letzterer könnte eine sofortige hundertprozentige Nutzung von Wasserstoff ermöglichen. Eine DRI-Anlage, die dagegen zunächst ein Gemisch aus fossilem Gas und Wasserstoff verwendet, würde für die Umstellung auf 100% Wasserstoff wahrscheinlich eine weitere Umrüstung benötigen.

All diese Dekarbonisierungsoptionen müssen gemeinsam betrachtet werden, um eine klimaneutrale Stahlproduktion zu ermöglichen. Denn Stahl ist ein wichtiger Bestandteil unserer Wirtschaft und Gesellschaft und ein Schlüsselmaterial für die Energiewende.

 

Quellen

1) Wirtschaftsvereinigung Stahl, 2022 (https://www.stahl-online.de/startseite/stahl-in-deutschland/)

2) Statista, 2023 (https://de.statista.com/statistik/daten/studie/241479/umfrage/betriebsanzahl-der-stahlindustrie-in-deutschland/#:~:text=Deutsche%20Stahlindustrie%20%2D%20Anzahl%20der%20Betriebe%20bis%202021&text=Im%20Jahr%202021%20wurden%20in,der%20Stahlindustrie%20t%C3%A4tige%20Betriebe%20gez%C3%A4hlt)

3) Bellona, 2020a (https://www.frompollutiontosolution.org/hydrogenuseinindustry)

4) Bellona, 2020b (https://www.frompollutiontosolution.org/casestudy-h2insteel)

5) Statistisches Bundesamt, 2023 (https://www.destatis.de/DE/Themen/Branchen-Unternehmen/Energie/Erzeugung/Tabellen/bruttostromerzeugung.html)

6) Angenommen wird einen vollständige Substitution der gesamten Produktionskapazität. Würde man lediglich die angekündigte DRI-Produktionskapazität nach der Umstellung berücksichtigen, ergäbe sich eine neu installierte Windkraft von rund 11GW.

7) Deutsche WindGuard, 2022 (https://www.wind-energie.de/fileadmin/redaktion/dokumente/publikationen-oeffentlich/themen/06-zahlen-und-fakten/20230118_Status_des_Windenergieausbaus_an_Land_Jahr_2022.pdf)

8) Annahme, dass eine durchschnittliche Windturbine von 3 MW mit einem Kapazitätsfaktor von 30 % 13.440 MWh erneuerbaren Strom erzeugen müsste, um Wasserstoff für die Stahlherstellung zu produzieren.

9) Ein durchschnittlicher deutscher Haushalt verbraucht 3,2 MWh Strom pro Jahr, siehe Odyssee-Mure, 2021 (https://www.odyssee-mure.eu/publications/efficiency-by-sector/households/electricity-consumption-dwelling.html)

10) World Steel Association, 2023 (https://worldsteel.org/steel-topics/steel-markets/automotive/)

11) Transport & Environment, 2017 (https://www.transportenvironment.org/wp-content/uploads/2021/07/Does-sharing-cars-really-reduce-car-use-June%202017.pdf) & Namazu und Dowlatabadi, 2018 (https://doi.org/10.1016/j.tranpol.2017.11.001)

12) Cooper et al., 2014 (https://doi.org/10.1016/j.resconrec.2013.11.014)

 

Appendix

Stahlwerk Nominale Rohstahlkapazität (ttpa) Rohstahlproduktion 2021 (ttpa) Emissionen im Jahr 2022 (Mio t CO2eq/a)
1 Integriertes Hüttenwerk Duisburg, Thyssenkrupp Steel Europe AG 13.000 11.560* 16,2
2 Hüttenwerke Krupp Mannesmann (HKM) 6.000 4.000** 7,1
3 Glocke Salzgitter, Salzgitter Flachstahl 5.200 4.300 7,2
4 ArcelorMittal Bremen 3800 3300 6,4
5 AG der Dillinger Hüttenwerke Dillingen 2760 2281 6,0
6 ArcelorMittal Eisenhüttenstadt 2400 1900 3,1

Quellen: Global Energy Monitor, 2023 (https://www.gem.wiki/Category:Steel_plants_in_Europe) und WWF, 2023 (https://www.wwf.de/fileadmin/fm-wwf/Publikationen-PDF/Klima/WWF-DirtyThirty-Emissionen-Industrie.pdf)

*eigene Schätzung aufgrund fehlender Daten

**Jahr2020, da keine Daten für 2021